Fokus Gesundheit
16. September 2021
Kummer mit der Schulter
Interview mit Dr. med. Martin Gerber, Leitender Arzt Klinik für Chirurgie

Dr. med. Martin Gerber ist Facharzt für Chirurgie, speziell Allgemeinchirurgie und Traumatologie und in der Klinik für Chirurgie des Spitals Zollikerberg tätig. Er referierte zum Thema «Kummer mit der Schulter» am Donnerstag, 16. September 2021, gemeinsam mit Dr. med. Philipp Michael Frey, Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparats, speziell Schulter- und Ellenbogenchirurgie, Cor Dekker, Leiter Therapien/Dipl. Physiotherapeut, und Willi Edelmann, Dipl. Physiotherapeut. Das Interview wurde einen Tag nach der Veranstaltung geführt.
Wodurch passieren die meisten Schulterfrakturen?
Die meisten Schulterfrakturen passieren bei älteren Leuten, dabei ist meist ein Sturz in häuslichen Umfeld die Ursache. Hier könnte mit einfachen Mitteln (Eliminieren von «Stolperfallen» in der Wohnung, ausreichende Beleuchtung, optimale augenärztliche Versorgung, Kraft- und Gleichgewichtstraining) Gegensteuer gegeben werden.
Was sind die häufigsten Symptome bei Schulterschmerzen und ab welchem Zeitpunkt sollte man eine Ärztin oder einen Arzt aufsuchen?
Das kann nicht einfach so generalisierend beantwortet werden. Die genaue Erhebung der Krankengeschichte (Anamnese) ist von entscheidender Bedeutung, zum Beispiel die Belastung der Schulter, berufliche Tätigkeit, das Alter oder allfällige Traumata/Unfälle. Bei Schmerzen nach einem Unfall sollte unverzüglich eine Ärztin oder ein Arzt aufgesucht werden, und bei Schmerzen ohne erkennbare Ursache würde ich nach zwei bis drei Wochen ohne Besserungstendenz eine Ärztin oder einen Arzt aufsuchen.
Inwiefern ist eine ausgerenkte Schulter gefährlich oder schädlich?
Auch das muss etwas differenzierter betrachtet werden. Bei einer akuten/unfallbedingten Luxation (Verrenkung) muss sofort eine Ärztin oder ein Arzt aufgesucht und eine Diagnostik gemacht werden (Röntgen). Wie gefährlich oder schädlich die Luxation ist, hängt dann vom Befund ab. Sind keine relevanten Strukturen beschädigt (Sehnen, Gelenklippe, Schulterpfanne oder Schulterkopf), ist die Sache unter Umständen mit der Reposition erledigt. Es können aber auch sehr gravierende Verletzungen entstehen, die operativ angegangen werden müssen. Die exakte klinische Untersuchung und eventuelle Zusatzuntersuchungen (Computertomografie/Magnetresonanztomografie) helfen da weiter.
Bei chronischen/rezidivierenden Luxationen sollte je nach Alter und Aktivitätsgrad der Patientin oder des Patienten eine operative Stabilisierung in Betracht gezogen werden, da dies für das Gelenk schädlich und unter Umständen auch sehr gefährlich sein kann (z.B. spontane Reposition beim Schwimmen im See).
Wie unterscheiden sich Schulterprobleme bei jungen und bei älteren Menschen?
Bei jüngeren Patientinnen und Patienten entstehen Schulterverletzungen meist traumatisch beim Sport. Oft sind hier die Luxationen zu nennen (vgl. oben stehender Punkt). Frakturen sind deutlich weniger häufig als bei älteren Personen. Verletzungen von Knorpel, Gelenklippe und Sehnen sind führend.
Bei älteren Patientinnen und Patienten ist für mich als Unfallchirurg der Sturz mit der Fraktur dominant. Die Arthrose ist sicher auch ein Problem – dem begegne ich als «Nicht-Orthopäde» aber nur selten.
Bei «mittelalten» Patientinnen und Patienten ist die ganze Bandbreite von Schulterproblemen vorhanden. Diese reicht von unfallbedingten Verletzungen über Abnützung (Arthrose) bis zu chronischen Kapsel-, Band- und Sehnenproblemen oder muskulären Beschwerden, die durch unbalancierte Kräfte zu Fehlstellungen und Schmerzen führen können. Hier kann die Physiotherapie oft kleine Wunder vollbringen.
Welche Fortschritte konnten mit den Implantaten erzielt werden?
Bezüglich der Fortschritte in der Prothetik (künstliche Schultergelenke) kann ich nicht kompetent genug Auskunft geben, da ist der Schulterorthopäde der richtige Ansprechpartner.
Bei der Versorgung von Brüchen hat die Weiterentwicklung der Implantate (Marknägel, Platten) sehr grosse Fortschritte gemacht und erlaubt uns heute, Brüche zu operieren, die noch vor wenigen Jahren kaum zu operieren gewesen wären. Auch ist die Stabilität nach der Osteosynthese wesentlich besser und erlaubt eine frühere und intensivere Beübung und somit eine wesentlich schnellere und erfolgreichere Rehabilitation. Der Trend zu minimalinvasiv einzubringenden Implantaten hat ebenfalls zur schnelleren Rehabilitation beigetragen (und ist kosmetisch auch ansprechender).
Was erhoffen Sie sich am meisten von der zukünftigen Forschung rund um die Schulter?
Aus unfallchirurgischer Sicht ist sicherlich eine weitere Optimierung der Implantate immer wünschenswert. Gerade bei älteren Patientinnen und Patienten ist die Knochenqualität oft suboptimal und die optimale Verankerung der Platte/Schrauben/Nägel essenziell für den Therapieerfolg. Hier gibt es Ansätze, dass der Knochen zum Beispiel mit Kunstknochen oder Knochenzement zusätzlich «augmentiert» wird. Ob das eine zukunftsweisende Entwicklung sein wird, bleibt abzuwarten.
Durch verbesserte informatische Planungswerkzeuge könnten eventuell die Operationsschritte noch besser geplant werden und die Implantate zum Beispiel patientenspezifisch (Stichwort 3-D Druck), angepasst werden. Hier gilt aber zu berücksichtigen, dass das bei Frakturen ungleich schwerer sein wird als bei der Prothesenversorgung, da jede einzelne Fraktur einmalig ist und bei einem Gelenkersatz quasi «neu aufgebaut» werden kann.
Möglichst minimalinvasive und technisch einfache Systeme werden in der Zukunft sicher auch ein Thema sein, damit der Fokus auf dem Bruch und nicht auf dem Bedienen des Implantats liegt.
Haben Sie im Zusammenhang mit Schulterschmerzen noch einen letzten Tipp für Betroffene?
Regelmässige körperliche Betätigung und Bewegung auch bis ins hohe Alter können sicherlich helfen, dass erst gar keine Schmerzen auftreten und weniger Stürze passieren. Sollten doch hartnäckige Probleme bestehen, sind wir hier in der Schweiz in der komfortablen Situation, auf sehr viel Know-how und ausgezeichnet ausgebildete Ärztinnen und Ärzte sowie Therapeuten zurückgreifen zu können.