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Arbeitswelt

«Nähe schenken, wenn Worte nicht reichen» – Klinische Seelsorge am Spital Zollikerberg

lic. theol. Sales Meier

lic. theol. Sales Meier

21. November 2025

lesezeit

10 min

Klinische Seelsorge ist weit mehr als ein Gespräch: Sie ist eine achtsame Begleitung in Zeiten von Krankheit, Krisen und tiefen Lebensfragen. Im Interview berichtet Pfarrer Sales Meier von seinen Erfahrungen als Spitalseelsorger – von stillen Momenten des Miteinanders, vom Umgang mit Gefühlen der Ohnmacht und davon, wie oft bereits kleine Gesten genügen, um Menschen in belastenden Situationen Halt, Trost und Orientierung zu geben.

Was unterscheidet die klinische Seelsorge von anderen Formen der seelsorglichen Begleitung – gerade im Setting eines Akutspitals?

Im Gegensatz zu anderen seelsorglichen Angeboten ist die klinische Seelsorge im Akutspital stark prozessorientiert, situativ und auf die spezifischen Herausforderungen akuter Krankheit und Krise ausgerichtet. Sie reagiert flexibel auf plötzliche Notfälle, leistet psychologische und spirituelle Erste Hilfe und begleitet Menschen oft in einer sehr vulnerablen Lebensphase. Sie ist mehr als ein Gespräch: Klinische Seelsorge bietet eine achtsame, einfühlsame Begleitung von Patientinnen und Patienten, Angehörigen sowie Mitarbeitenden in einem hochdynamischen medizinischen Umfeld. Ein besonderes Kennzeichen ist das intensive Zuhören («Hinhören»), das Raum schafft für Belastendes, Ängste, Hoffnungen und spirituelle Bedürfnisse. Dabei können – stets nur mit Einwilligung – auch spirituelle Elemente wie Krankenkommunion, Gebet oder Segen einbezogen werden.

Wie begleiten Sie Patient:innen in existenziellen Krisen, z. B. nach belastenden Diagnosen oder vor einem schweren Eingriff?

Die Patientinnen und Patienten im Spital haben nicht nur eine Krankheits-, sondern auch eine Lebens- und Leidensgeschichte. Durch eine schwere Erkrankung wird das Selbstverständnis oft erschüttert. Fragen nach der eigenen Identität – Wer bin ich noch, wenn ich abhängig, geschwächt oder pflegebedürftig bin? – treten dabei häufig in den Vordergrund.

Seelsorge im Spital bedeutet zunächst offene Beziehungsarbeit. Sie ist das achtsame Bemühen, einen Menschen wirklich kennenzulernen – mit seinen Freuden und Schmerzen, seinem Glück und Unglück, den Höhen und Tiefen, die sein Leben geprägt und zur aktuellen Situation geführt haben. Es geht auch darum, dem Patienten zu helfen, ein Gespür für seine eigene Geschichte zu entwickeln und dieser zu folgen.

Meine Präsenz, mein inneres Dasein, ist im Gespräch zentral. Sie wirkt im Kontakt, schafft Vertrauen und ist Voraussetzung für echtes Interesse und Zuwendung. Zuhören sollte dabei frei von eigenen Vorstellungen, Vorlieben und Bewertungen sein – also vollkommen unvoreingenommen. Und letztlich geht es beim Zuhören nicht nur darum, mit den Ohren und dem Verstand präsent zu sein, sondern ebenso mit dem Herzen. Das heisst: Informationen nicht nur wahrnehmen, sondern auch empathisch mitempfinden. Durch diese Empathie, unsere menschliche Berührbarkeit, entsteht eine Verbindung mit der inneren Welt meines Gegenübers.

Eine wesentliche Frage, die ich mir als Seelsorger stelle, lautet nicht: «Was soll ich sagen oder tun?» sondern: «Wie schaffe ich genug Raum, damit die Geschichte des Menschen Platz findet?» Seelsorge ist die demütige und zugleich anspruchsvolle Aufgabe, einen schützenden Freiraum zu eröffnen, in dem sich ein Mensch ohne Angst mit seinem Schmerz und Leid auseinandersetzen und trotz Verwirrung zuversichtlich nach neuen Wegen suchen kann.

Unterstützend wirken dabei auch Rituale wie die Krankenkommunion als stärkende Wegzehrung. Ein Psalmengebet oder ein Segen stellt das Anvertraute in einen grösseren Sinnhorizont. Denn auf die biblische Zusage «Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen» darf ich in meinen Gesprächen vertrauen.

 
Auch Angehörige stehen oft unter grossem Druck. Wie begegnen Sie ihnen – und was können Sie in solchen Situationen bewirken?

Auch bei Angehörigen ist der oben beschriebene Ansatz der empathischen Gesprächsführung derselbe. Ganz nach dem Motto: «Geteiltes Leid ist halbes Leid.»

 
Gibt es typische Missverständnisse über Ihre Arbeit im Spital, die Sie häufig erleben?

Mit solchen Missverständnissen bin ich in meiner Praxis zum Glück bisher noch nicht konfrontiert worden.

 
Wie bewahren Sie im stark getakteten Klinikalltag Raum für Präsenz, Stille und persönliche Begegnung?

Im Unterschied zu anderen Berufsgruppen wie etwa der Physiotherapie habe ich als Spitalseelsorger keine zeitlichen oder zielorientierten Vorgaben für Gespräche. Das schafft Entlastung und ermöglicht echte Begegnung. Die Patientinnen und Patienten sprechen meist ohnehin über die Themen, die sie im Moment am stärksten beschäftigen.

Ich bemühe mich, mit einer offenen, achtsamen und empathischen Haltung präsent zu sein. Unterstützend wirkt dabei meine tägliche kontemplative Meditation – eine Gebetspraxis, in der ich die mir anvertrauten Gespräche der Kraft Gottes übergeben darf. Für mich ist sie eine Form von wohltuender seelischer Hygiene. Auf diese Liebes- und Schöpfungskraft darf ich auch in meinen Begegnungen vertrauen. Das entlastet sehr, denn es kommt nicht nur auf meinen eigenen Effort an.

Wie gehen Sie mit spirituellen Fragen, Zweifeln oder Hoffnungen um, wenn Menschen keinen religiösen Bezug haben?

Bei meinen Besuchen beobachte ich seit mehreren Jahren einen klaren Trend weg von konfessioneller hin zu individualisierter Begleitung im Sinne von Spiritual Care. Während früher viele Menschen in einer kirchlichen Tradition verwurzelt waren, suchen heute immer mehr ausserhalb institutioneller Religionen nach Sinn und Halt.

Individuelle Spiritualität ist häufig ein «Patchwork» aus religiösen, kulturellen und ethischen Einflüssen, das im Verlauf eines Lebens an Bedeutung gewinnen oder verlieren kann. Spiritual Care geht davon aus, dass jeder Mensch spirituelle Bedürfnisse hat – bewusst oder unbewusst, besonders in Grenzsituationen oder in der Nähe des Lebensendes.

Diese Suche zu begleiten, ist nicht nur Aufgabe der Seelsorge, sondern des gesamten Behandlungsteams. Dabei geht es niemals darum, eigene Überzeugungen weiterzugeben, sondern den Menschen zu unterstützen, seine eigenen Ressourcen zu entdecken und zu stärken.

 
Wie sieht die Zusammenarbeit mit Pflege, Ärzteschaft und Psychologie konkret aus?

Als Seelsorger bin ich im Spital Zollikerberg sehr gut in das Behandlungsteam integriert. Als eine Art «geh-hin-Kirche» besuche ich Patientinnen und Patienten während ihres stationären Aufenthalts auch ohne vorherige Anmeldung. Häufig werde ich zudem von Angehörigen, der Pflege oder Ärztinnen und Ärzten hinzugezogen.

Jeden Dienstagmorgen nehme ich am interprofessionellen Palliative-Rapport teil, in dem wir gemeinsam nach der bestmöglichen Unterstützung für die Patientinnen und Patienten suchen – selbstverständlich unter Wahrung des Seelsorgegeheimnisses. Für Patientinnen und Patienten der geriatrischen akuten Rehabilitation findet der Rapport am Donnerstagnachmittag statt.

Darüber hinaus biete ich Weiterbildungen für Mitarbeitende und Ärzt:innen zu Themen wie Spiritualität, Achtsamkeit, Stressbewältigung und Spiritual Care an und bin eine offene Anlaufstelle für persönliche Gespräche. Zudem findet jeden Dienstag eine Mittagsmeditation statt. Sie bietet allen Mitarbeitenden die Möglichkeit, während eines anspruchsvollen Arbeitsalltags kurz innezuhalten, Ruhe zu finden und neue Kraft zu schöpfen.

Portraitfoto

lic. theol. Sales Meier

Römisch-katholischer Spitalseelsorger

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