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Ratgeber

Palliative Care mit Empathie und Kompetenz

Gesa Betcke

Gesa Betcke

29. Januar 2024

lesezeit

15 min

Gesa Betcke ist Co-Stationsleiterin der Spezialisierten Pflegestation und seit bald 13 Jahren bei uns tätig. Im Interview beleuchtet sie die wichtigsten Aspekte, Prinzipien und Ziele der Palliative Care.

Liebe Gesa, kannst du uns zunächst etwas über die Grundsätze der Palliative Care erzählen und woher der Name stammt?

Die Palliative Care ist ein vergleichsweise junger Bereich in der Medizin. Obwohl palliative Ansätze schon früher in Spitälern angewendet wurden, hat sich dieser Fachbereich, der nun seit etwa 20 Jahren als eigenständige Disziplin in der Inneren Medizin anerkannt ist, erst vor Kurzem etabliert. Die Ursprünge der Palliativpflege liegen in England. Cicely Saunders (1918– 2005) gilt als die Pionierin der Palliativmedizin. Sie formulierte den Leitsatz: «Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.» Der Begriff «Palliativ» leitet sich aus dem Lateinischen «palliare – mit einem Mantel bedecken» ab. Die Palliativmedizin hat das Ziel, die Folgen einer Erkrankung zu lindern (Palliation), wenn keine Aussicht auf Heilung mehr besteht. Die Patientinnen und Patienten werden dabei von einem interprofessionellen Team in ihrer Ganzheitlichkeit wahrgenommen und behandelt.

Gehen wir auf diese Ganzheitlichkeit der Patientenbetreuung ein: Wie geht ihr vor?

Um die Patientinnen und Patienten ganzheitlich erfassen zu können, verwenden wir das sogenannte SENS-Modell. Das «S» steht für Symptommanagement, ein zentrales Thema in der Palliativpflege. Hierbei geht es um die Bewältigung von Schmerzen, Übelkeit, Schwäche, Appetitlosigkeit und die Förderung der Selbsthilfe. Das «E» steht für Entscheidungsfindung, was bedeutet, dass wir gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten Ziele und Prioritäten festlegen und planen. Auch erfassen wir präventive Massnahmen für mögliche Komplikationen wie Schmerzdurchbruch, Blutungen, plötzlich eintretende komatöse Zustände oder Atembeschwerden. Das «N» im SENS-Modell steht für Netzwerk, was die Entwicklung eines umfassenden Betreuungsnetzwerks unter Einbeziehung aller Beteiligten wie Angehörige, Spitex und Palliative Spitex bedeutet. Rundtischgespräche, bei denen Ärzt:innen, Pflegepersonal, Angehörige, Patient:in und gegebenenfalls Sozialarbeiter:in gemeinsam Ziele festlegen, sind hierbei essenziell. Abschliessend gibt es das «S» für Support, also die Unterstützung der Angehörigen, wann immer möglich auch über den Tod hinaus. Hierbei kann eine Begleitung durch Psychoonkolog:innen und/oder Seelsorger:innen in Betracht gezogen werden.

Kannst du mir einige Beispiele von Patientinnen und Patienten geben, die von der Palliative Care profitieren?

Auf unserer Palliativstation nehmen wir jährlich etwa 345 Patient:innen auf, um die 125 Patient:innen versterben. Unsere Patient:innen sind chronisch erkrankte, schwerstkranke und sterbende Menschen. Ich würde sagen, etwa 70 Prozent der aufgenommenen Patient:innen leiden an onkologischen Erkrankungen. Wir haben aber auch Fälle von terminaler Herz- oder Niereninsuffizienz, gefolgt von den Lungenerkrankungen, wie zum Beispiel der COPD oder COVID-Erkrankungen in Zusammenhang mit einem bestehenden Lungenleiden. Neu hinzugekommen sind Patientinnen und Patienten mit Leberzirrhose aufgrund von Alkohol- oder Drogenmissbrauch. Im Fokus unserer täglichen Aufgaben steht die Linderung des Leidens auf verschiedenen Ebenen (psychisch, physisch, spirituell und sozial). Unsere Patientengruppen mögen unterschiedliche Beschwerden haben, aber sie alle stehen an einem entscheidenden Punkt: Immer geht es um die Frage «wie geht es weiter» und «wie sieht das erforderliche Symptommanagement aus».

Welche Besonderheiten und Dienstleistungen bietet unsere Spezialisierte Pflegestation der Palliative Care?

Die interprofessionelle Zusammenarbeit ist für uns ein sehr wichtiges Thema. Wir haben einmal in der Woche einen «Pall-Rapport», hier sitzen Kaderärzt:innen, Assistenz:ärztinnen, Pflege, Physiotherapie, Ergotherapie, Sozialarbeit, Ernährungsberatung, Seelsorge und Psychoonkologie zusammen und legen das Therapieziel fest. Es findet ein reger und wertschätzender Austausch zum Wohle der Patientinnen und Patienten statt.

Wir haben zudem eine sehr gute und enge Zusammenarbeit mit unseren fix zugeteilten Freiwilligen, die fest in unser Team integriert sind und auch von den Patientinnen und Patienten sehr geschätzt werden. Ich schätze meine Freiwilligen sehr. Sie sind alles so gestandene und bodenständige Damen. Die eine gibt in geübter Weise Fussreflexzonenmassagen, andere engagieren sich in Gesprächen über das Leben oder Alltägliches, die im Spital oftmals zu kurz kommen.

Dann haben wir immer dienstags unsere Fototherapeutin auf der Palliativstation. Ihr künstlerisches Wirken gilt als Pionierarbeit innerhalb der Palliative Care. Zusammen mit den Patientinnen und Patienten leistet sie Biografiearbeit anhand von Bildern und Fotos. Sie hört aus den Informationen heraus, was den Patientinnen und Patienten gefällt oder was ihnen lieb geworden ist. Sie sucht dann passende Bilder aus, die wir ausdrucken und für die Patientinnen und Patienten in ihrem Spitalzimmer aufhängen.

Wir haben weiter zwei Sozialhunde, einen Australian Shepperd und einen Pudel, die uns auf der Palliativstation in Begleitung der Besitzerin besuchen. Es ist ein Novum, dass den Hunden der Zutritt ins Spital erlaubt ist. Es gibt dazu ein paar Hygieneregeln und die ausgewählten Hunde sind mit einem Schild am Halsband mit der Aufschrift «Ich bin willkommen» beschriftet. Für unsere Patientinnen und Patienten ist es sehr wichtig, einfach mal etwas Warmes, Felliges und Wuscheliges zu streicheln. Das tut ihnen gut und macht sie glücklich. Manchmal scherzt die Therapeutin, dass sie auch für uns Mitarbeitende kommt – der Hund wird im Spital schon auf dem Weg zu uns freudig begrüsst und gestreichelt.

Auch bieten wir das therapeutische Handauflegen an. Das Handauflegen wird von ausgebildeten Personen durchgeführt und ist eine Geste der menschlichen Zuneigung durch achtsame Berührung. Diese Art von respektvoller Aufmerksamkeit wird von den Patientinnen und Patienten sehr geschätzt.

Zusätzlich haben wir die Musiktherapie. Die Musiktherapeutin geht mit ihrem Rollwagen, beladen mit verschiedenen Instrumenten und Klangkörpern, von Zimmer zu Zimmer und musiziert für oder auch mit den Patientinnen und Patienten. Ich selber höre die Klänge sehr gerne. Sie wirken auch auf mich in angenehmer und beruhigender Art und Weise.

 

Oftmals spielen Angehörige eine bedeutende Rolle im Begleitungsprozess von Patientinnen und Patienten in der Palliative Care. Wie erlebst du das?

Am Anfang gibt es manchmal einen gewissen Widerstand – es geht auf die Palliativstation und die Angehörigen wissen noch nicht so ganz, was da auf sie zukommt. Diese Gefühle verschwinden oft recht schnell, weil sie merken, dass wir uns Zeit für sie nehmen und sie danach fragen, wie es ihnen in dieser ganzen Situation geht. Oft sagen sie dann erstaunt und erleichtert: «Sie sind die erste, die mich das gefragt hat», denn meistens richten sich Fragen direkt an oder über die Patientinnen und Patienten.

Wir arbeiten sehr eng mit den Angehörigen zusammen und sie haben auf unserer Station die Möglichkeit, 24 Stunden bei uns zu sein und hier zu übernachten. Manchmal wollen sie sogar einen Teil der Pflege übernehmen und wir unterstützen sie dabei. So entsteht ein enger Kontakt, der durch die Vertrautheit in unserer relativ kleinen Station verstärkt wird. Die Angehörigen sind die Bezugspersonen der Patientinnen und Patienten und manchmal erreichen wir die Patientinnen und Patienten über die Angehörigen oder wir schaffen es sogar, dass sie gewisse Themen oder Unklarheiten noch untereinander weiter besprechen.

Es ist bei uns wie in einer anderen Welt, hier ist es ruhig und entspannt, man fühlt sich sicher und merkt, dass wir versuchen, auch wirklich Vieles zu ermöglichen.

Kannst du eine inspirierende Geschichte mit uns teilen, die zeigt, wie die Palliative Care das Leben eine:r Patient:in und seiner oder ihrer Familie beeinflusst hat?

Für mich ist Palliative Care wie ein Puzzle aus vielen Teilen, mit Lichtblicken und Glücksmomenten, in denen Patientinnen und Patienten plötzlich wieder lächeln, weil sie schmerzfrei sind, oder sie wieder reden können, weil wir die Übelkeit behandeln konnten. Ein spezieller Moment kann sein, wenn wir die Möglichkeit schaffen, dass eine Patientin oder ein Patient im Bett im Garten draussen liegen darf und die Natur geniessen kann – das sind die zahlreichen Dinge, die wir zu ermöglichen versuchen und die das Puzzle ausmachen.

Einmal haben wir in der Klinik Susenberg sogar eine Hochzeit ermöglicht: Eine junge Patientin, sie hatte ein kleines Kind, heiratete in der Klinik. Wir waren alle dabei und haben sie geschminkt, angezogen und mitgefeiert. Eine Woche später verstarb sie. Es war unser Versuch, Träume noch wahr werden zu lassen.

Es gibt Patientinnen und Patienten, die man nicht vergisst und manchmal sind es auch traurige Erinnerungen, aber die Erinnerungen sind da. Beispielsweise verstarb einmal ein junger Patient mit einem Hirntumor, dessen Mutter jedes Jahr bei uns zum Todestag vorbeikommt und Blumen und ein bisschen Schokolade bringt, das ist berührend.

Portraitfoto von Gesa Betcke

Gesa Betcke

Co-Stationsleitung Spezialisierte Palliativstation (SPS), Klinik für Innere Medizin

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