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Backstage

Interview mit Chefärztin Prof. Dr. med. Vera Bernet

Prof. Dr. med. Vera Bernet

Prof. Dr. med. Vera Bernet

7. November 2023

lesezeit

15 min

Lesen Sie das inspirierende Interview mit Chefärztin Prof. Dr. med. Vera Bernet über emotionale Momente in ihrer Karriere, Herausforderungen und Veränderungen im Berufsfeld der Neonatologie sowie Druck, Perfektionismus und Freizeit.

Frau Prof. Dr. med. Vera Bernet, gibt es einen bestimmten Moment in ihrem Leben, der Sie dazu bewogen hat, sich auf die Kinder- und Jugendmedizin, besonders die Neonatologie, zu spezialisieren?

Ja, den gibt es: Als ich Unterassistentin auf der Geburtshilfe war, damals in der Pflegerinnenschule, sprach mich eine Assistenzärztin der Neonatologie an und fragte mich, ob ich Interesse hätte, an der Neugeborenen-Untersuchung teilzunehmen. Ich sagte begeistert zu und begleitete sie. Diese Erfahrung hat mich zutiefst beeindruckt. Ich wusste schon immer, dass ich in der Pädiatrie arbeiten wollte, allerdings war ich mir anfangs unsicher, ob ich mich für die Pädiatrie oder die Kinderpsychiatrie entscheiden sollte. Ich habe dann in beide Bereiche hineingeschnuppert, aber schnell gemerkt, dass die Kinderpsychiatrie doch nicht meins ist. Als ich dann die Neonatologie näher kennenlernte, war mir klar, dass ich genau das machen wollte. Es ist sehr spannend und es ist zukunftsweisend für die Kinder und die Familie. So bin ich zur Neonatologie gekommen.

Sie haben hier im Spital Zollikerberg sowohl die Position der Chefärztin in der Neonatologie als auch in der Kinder-Permanence – wie erleben Sie diese Doppelrolle?

Ich sehe mich ganz klar als Neonatologin. In der Kinder-Permanence liegt mein Schwerpunkt im Management, da ich durch meine Spezialisierung nicht mehr nah genug an der allgemeinen Pädiatrie dran bin. Dort sehe ich die Gelegenheit, gute Medizin zu machen und vor allem junge Ärzt:innen auszubilden und sie für das Gebiet zu begeistern. Mein Herz schlägt für die Neonatologie: Hier bin ich neben meiner Rolle als Leiterin auch aktiv am Krankenbett involviert. Auch hier lege ich grossen Wert auf die Ausbildung. Ich finde, wenn man viele Jahre in der Medizin tätig ist, gehört es dazu, das erworbene Wissen weiterzugeben und junge Ärzt:innen zu inspirieren und anzuleiten.

Apropos Förderung junger Talente: Was raten Sie Ärzt:innen, die am Anfang ihrer Laufbahn stehen?

Fragen stellen und Hinterfragen – das tun sie heute auch schon viel mehr als wir früher. Dennoch: Wir müssen das Feld schaffen, damit sie Fragen stellen können und nicht das Gefühl haben: was wird man von mir denken, wenn ich frage oder sage das ich das jetzt nicht weiss.

Ich rate ihnen auch, über Erlebnisse zu reden. Viele der jüngeren Ärzt:innen, die ich erlebe, bringen da bereits mehr Selbstverständlichkeit mit und fordern auch ein, was wir nicht eingefordert haben. Nur so kann der Spass am Beruf beibehalten werden. Wenn man keine Fragen stellt, nicht hinterfragt, nicht diskutiert, nicht offen ist für Neues, aber auch für Kritik, dann wird es schwierig.

Und welche Fähigkeiten oder Eigenschaften halten Sie in der Neonatologie für unerlässlich?

Als Ärztin oder Arzt sollte man meiner Meinung nach über eine ausgeprägte emotionale Intelligenz verfügen, und wenn man in die Neonatologie gehen will, sollte man sich für die Akutmedizin begeistern. Es erfordert auch eine Faszination für den Umgang mit einem gewissen Mass an Stress und die Fähigkeit, sich für Herausforderungen zu begeistern. Ich habe schon viele junge Frauen und Männer gecoacht, die diesen Weg einschlagen wollten, und ich glaube, das ist etwas, das man spürt – im Sinne von: Das ist es, was ich machen will. Ein grosser Teil unserer Arbeit in der Neonatologie besteht auch in der Betreuung der Eltern; sie machen sogar etwa fünfzig Prozent unserer Tätigkeit aus. Wir unterstützen und begleiten Familien in dieser schwierigen Zeit. Dafür muss man eine hohe Belastbarkeit und Stresstoleranz mitbringen.

Können Sie uns erzählen, welchen Herausforderungen Sie im Laufe Ihrer Karriere begegnet sind?

Die eine Herausforderung ist ganz klar: Frau sein und Karriere machen. Ich hatte immer das Gefühl, ich muss mindestens so viel leisten, mindestens so engagiert sein, für jede Minute meiner Forschung kämpfen. Ich habe mich viel mit Karriereplanung beschäftigt, mit Chancengleichheit, und ich glaube, gerade die Pädiatrie ist ein wahnsinnig gutes Beispiel: Neunzig Prozent in der Kinderheilkunde sind Frauen, aber Chefärztinnen kann man in der Schweiz an zwei Händen abzählen. Das liegt daran, dass immer noch kein gesellschaftlicher Wandel passiert ist. Und wenn ich dann höre, dass es an den Frauen liegt, die keine Verantwortung übernehmen wollen – nein, daran liegt es überhaupt nicht. Ich kenne so viele Frauen, die unendlich gerne viel mehr geben würden. Aber es liegt an den Umständen.

Ich habe einen Mann, der immer gesagt hat, mach das, ich finde das toll und unterstütze dich – das haben viele nicht. Dann wollen beide Karrieremachen… Das ist in unserer Gesellschaft immer noch sehr schwierig. Ich bin nicht jemand, der eine Quote will, sondern faire Chancen, und das ist heutzutage leider noch nicht gegeben. Gleichzeitig muss man eben auch dafür sorgen, dass viel mehr Frauen darin geschult werden, sich zu positionieren, sich zu äussern, in die Öffentlichkeit zu treten.

Woran denken Sie, wenn Sie sich an bewegende Momente in Ihrem Arbeitsalltag erinnern?

Ich habe ganz viele Patient:innen vor Augen. Es gibt diese Patient:innen im Leben, die man nie vergisst. Einer von ihnen ist sicherlich der erste Patient, der mir gestorben ist. Ich konnte nicht fassen, dass mir das passiert. Während der Betreuung konnte ich auch gar nicht nach Hause gehen, ich bin einfach geblieben, zum Teil 36 Stunden am Stück, habe mich zwischendurch vielleicht mal eine Stunde hingelegt – und er ist trotzdem gestorben. Mein damaliger Chef sagte zu mir: Vera, du könntest hier wochenlang campen und er würde sterben, wir können es nicht ändern, wir haben alles getan, was wir konnten. Das hat mich ungeheuerlich geprägt, denn ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt das Gefühl, ich bin doch Ärztin geworden, um Leben zu retten, und dass ich auch jeden Menschen retten können würde. Das sind Momente, in denen man denkt, man hat den falschen Beruf gewählt.

Aber dann gibt es auch ganz viele Kinder, die mir geblieben sind, wo wir wirklich was Gutes tun konnten und aus denen etwas Grossartiges geworden ist, und die Eltern unendlich dankbar waren. Solche Kinder habe ich auch viele vor Augen.

Ich sage immer, in dem Moment, in dem es einem nicht mehr nahe geht was mit dem Patient:innen und seinen Familien passiert, sollte man mit diesem Beruf aufhören. Wenn ich nachts zu einem Notfall muss, dann stehe ich auch heute noch unter Adrenalin. Es ist nicht so, dass ich denke, ich habe schon tausende Male in meinem Leben reanimiert, sondern ich denke, was wird mich wohl diesmal erwarten und wie werden wir das Meistern – aber immer mit der Gewissheit, ich weiss genau, was ich tue, und ich weiss, dass wir alle unser Bestes geben. Trotzdem kann es leider passieren, dass ein:e Patient:in stirbt.

Welche Unterschiede oder Veränderungen sehen Sie in Ihrem Berufsfeld im Vergleich zu früher?

Die ungebrochene Hingabe zum Beruf, die in meiner Generation zweifellos stärker ausgeprägt war, ist heute eher eine Seltenheit – aber das muss auch nicht sein. Man kann eine herausragende Ärztin oder ein herausragender Arzt sein und eine Leidenschaft für den Beruf haben, auch wenn man klare Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben zieht und eine Balance findet. Ich werte das eine oder andere nicht.

In meiner Generation haben wir 100 bis 120 Stunden die Woche gearbeitet, waren völlig erschöpft und fragten uns, wie wir noch arbeiten konnten. Aber es ging. Wir waren und sind nicht perfekt, ich glaube aber, wir hatten damals eine andere Belastbarkeit und haben die Arbeit als wichtigen Teil unseres Lebens definiert. Ich hatte deswegen dennoch nie das Gefühl, dass mein Leben an mir vorbeiging. Als ich meine Tochter hatte, wusste ich, was in meinem Leben wichtig ist: das war und ist meine Familie. Ich hätte natürlich auch nicht arbeiten können, wenn ich nicht einen Partner gehabt hätte und habe, der das zu 150 Prozent unterstützt, das wäre gar nicht gegangen.

Ich glaube nicht, dass sich die kommenden Generationen auf uns einstellen müssen, sondern dass wir uns auf sie einstellen müssen, wir können das Rad nämlich nicht zurückdrehen. Für mich ist es ganz klar, dass wir die kommenden Generationen für den Beruf begeistern müssen und können.

Wie gehen Sie persönlich mit Stress und Druck um?

Unterschiedlich. Ich kann heute damit umgehen, weil ich vor allem in den letzten Jahren gelernt habe, dass ich immer einen Ausweg finde. Das heisst aber nicht, dass ich besonders begeistert bin, wenn sich an einem Tag Dinge häufen, wie Krankheitsausfälle oder Stellenabsagen, denn das erhöht auch den Druck auf das Team. Ich habe in meiner Arbeit die Gewissheit, ich kann das und krieg das hin, aber wenn man Aussenstehende fragen würde, würden sie vielleicht eher sagen, an solchen Tagen läuft sie deutlich grummeliger durch die Gegend. In der Regel bin ich aber ein sehr aufgestellter und positiver Mensch.

Dann gibt es auch die unendlich stressigen Zeiten, in denen ich merke, dass es wieder mal der Moment wäre, sich zu erholen und die Batterien aufzutanken. Das gelingt mir je länger je besser. Man braucht mehr Erholung, je älter man wird, das ist einfach so. Wenn ich früher zum Nachtdienst musste, konnte ich am nächsten Tag problemlos weiterarbeiten. Heute merke ich, dass um 11.00 Uhr mein Akku leer ist und ich, wenn ich nach Hause komme, erst mal einen Power-Nap machen muss. Das wäre vor zehn Jahren noch anders gewesen und vor zwanzig Jahren erst recht. Ich bin schon eher ein Mensch, der zwei Signale von seinem Körper braucht, dass es Zeit für Regeneration ist.

Haben Sie auch Zeit für Hobbys oder Sport?

Ja, ich nehme mir die Zeit. In der Regel jogge ich zweimal die Woche zwischen drei bis fünf Kilometer, nicht lange, dafür habe ich nicht genug Zeit. Und wenn ich irgendwie kann, gehe ich mit meinem Mann golfen. Das ist für mich jedes Mal wie Ferien, Golfplätze sind meistens an schönen Orten. Dort kämpft man nur mit sich und dem Ball, und hat meistens total seinen Frieden. Wenn ich das mit meinem Mann tun kann, fühle ich mich wie der ausgeglichenste Mensch überhaupt.

Als Chefärztin muss man sicher hohe Ansprüche an seine Arbeit stellen. Würden Sie sagen, Sie sind eine Perfektionistin?

Ja, das ist meine Persönlichkeit. Ich bin mir dessen bewusst, aber ich erwarte das nicht von anderen. Es ist nicht so, dass ich denke, man muss so sein wie ich, um Karriere zu machen. Perfektionismus kann auch im Weg stehen und ich habe gelernt, mit meinem Perfektionismus umzugehen. Manchmal kann ich sehr streng mit mir selbst und mit anderen sein. Dann sage ich etwas, wo ich denke: «Vera, das hättest du für dich behalten können» und entschuldige mich dafür. Man kann mir auch direkt sagen, das war jetzt ganz daneben und dann tut mir das unendlich leid. Aber wie gesagt, wir sind alle nicht perfekt und ich bin mir dessen bewusst. Ich entwickle mich zum Glück auch noch. Ich bin lernfähig und kritikfähig. Kritik nicht nur von meiner Familie und meinen Freunden nehme ich mir sehr zu Herzen.  

Was wären Sie geworden, wenn nicht Ärztin?

Mein zweiter Wunsch war es, Primarlehrerin zu werden. Und was ich heute extrem spannend finde, ist die Medizinaltechnik. Das finde ich etwas unglaublich Wichtiges, ein wirklich tolles Feld.

Haben Sie im Hinblick auf Ihre Karriere noch offene Wünsche?

Beruflich habe ich meine Ziele erreicht. Dennoch ist es mein Wunsch, weiterhin begeistert zu bleiben, die Klinik, in der ich tätig bin, bestmöglich weiterzuentwickeln, die nächste Generation zu fördern und meine Nachfolge im Blick zu haben. Ich persönlich gehörte nicht zu den Menschen, die im Ruhestand Ziele haben, wie eine Weltreise oder ähnliches. Das Einzige, was ich mir vornehme, ist, in naher Zukunft keine Nachtdienste mehr zu machen und mir dann irgendwann mehr Zeit für mich selbst und meinen Sport zu nehmen. Ich möchte auch nach der Pensionierung noch etwas tun und angebunden bleiben. Wir Ärzt:innen können uns nicht einfach verabschieden, wir haben nicht genug Nachwuchs und in dem Sinne fühle ich mich verantwortlich. Solange ich einen Beitrag leisten kann, werde ich das auch tun, wenn ich kann und man mich lässt.

Portraitfoto von Prof. Dr. med. Vera Bernet

Prof. Dr. med. Vera Bernet

Chefärztin, Klinikleitung Klinik für Neonatologie und Kinder-Permanence, Spitalleitung

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