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Backstage

Wie ist es, als Leitender Arzt der Notfallstation zu arbeiten?

Dr. med. Thierry Brunschwig

Dr. med. Thierry Brunschwig

24. Januar 2023

lesezeit

15 min

Dr. med. Thierry Brunschwig gewährt Einblicke in diesen abwechslungsreichen Alltag, erzählt, wie der Patientenansturm bewältigt wird und vieles mehr.

Herr Brunschwig, Sie sind Leitender Arzt der Notfallstation am Spital Zollikerberg. Erzählen Sie uns, was zeichnet Ihre Arbeit aus?

Ich habe verschiedene Aufgaben. Grundsätzlich kann ich sagen, dass es «unsere» Aufgabe ist – ich sage «unsere» und nicht nur «meine», weil wir ein Team sind –, die Patient:innen in der Notfallstation möglichst gut, sicher, schnell, und richtig zu behandeln.

Meine Aufgabe als Leiter des ärztlichen Teams ist, die Assistent:innen, Unterassistent:innen und die Oberärzt:innen zu betreuen und in der Behandlung der Patient:innen zu unterstützen. Ich kümmere mich natürlich auch selbst um viele Patient:innen, wichtiger ist aber, dass ich die Ergebnisse mit den Assitenzärzt:innen bespreche, damit wir die weitere Diagnostik und Behandlung festlegen können. Eine weitere Aufgabe ist, dass wir – auch meine Oberärzt:innen – die Prozesse für die Patient:innen möglichst planen. Das bedeutet, dass wir sie von Anfang an und so früh wie möglich aufsuchen, ein kurzes Gespräch mit ihnen führen, eventuell etwas gezielt untersuchen und dann einen Plan machen, wie die Behandlung im Notfall ablaufen soll, sodass wir möglichst schnell zu einem Ziel kommen. Daneben mache ich viele Ultraschalluntersuchungen und sogenannte Punktionen und kleine Operationen. Das sind so die Aufgaben direkt an den Patient:innen. Daneben gibt es strategische Funktionen sowie die Kommunikation und Zusammenarbeit mit der Pflege und anderen Abteilungen im Spital, wie beispielsweise Prozesse in der Notfallstation zu organisieren und zu verbessern.

Ihr Tag ist, gelinde gesagt, sehr abwechslungsreich – das muss man aushalten können. Welche Fähigkeiten und Eigenschaften sollte man Ihrer Meinung nach idealerweise für die Arbeit in einer Notfallstation mitbringen?

Der Notfall ist sicher nicht für jede oder jeden der ideale Arbeitsplatz. Man muss sich bewusst sein, dass man im Alltag wahnsinnig fremdbestimmt ist. Es ist oft sehr unruhig und auch sehr laut. Viele Aufgaben müssen gleichzeitig erledigt werden: Anfragen, Telefonate – unglaublich viele Telefonate –, und viele Menschen wollen mit einem sprechen oder brauchen Informationen, darunter Patient:innen, Angehörige aber auch Ärzt:innen und Pflegende. Man kann sich kaum hinsetzen und etwas konzentriert durchdenken oder in Ruhe überlegen. Man muss häufig von einer Situation direkt in die nächste wechseln und wieder zurück. Voraussetzung dafür ist, dass man eine gewisse Gelassenheit und Widerstandsfähigkeit gegen Stress und Unruhe mitbringt. Ich bin gut darin, die Übersicht nicht zu verlieren und Prioritäten zu setzen. Bei uns im Team versuchen wir immer, den Tag mit Humor zu nehmen, unsere gute Laune auch in schwierigen Situationen zu bewahren und uns immer wieder zu konzentrieren, um dann kurz runterfahren, und wieder konzentriert zum nächsten überzugehen. So ein Tag kann anstrengend sein und auch ziemlich lang, aber oft auch befriedigend.

Ja, das glauben wir Ihnen aufs Wort und wir sind so dankbar, dass es Menschen wie Sie und Ihr Team gibt. Schauen wir uns die Notfallstation des Spitals Zollikerberg ein wenig genauer an: Welches Leistungsspektrum umfasst diese?

Wir bieten bei uns im Spital eine gute Medizin an und versuchen, bereits auf der Notfallstation mit Vernunft, Weitsicht und Empathie vorzugehen. Wir gehen stark auf die Wünsche der Patient:innen ein. Wir sind für alle Patient:innen offen, von der Geburt bis ins hohe Alter und mit allen Problemen. Wir nehmen quasi alles an: Verletzungen und Krankheiten aller Art, wir decken alle Organsysteme ab, und wir bieten auch frauenärztlich viel an. Was wir nicht so sehr haben, sind einige bestimmte Schwerpunkte: Für Augen-Notfälle zum Beispiel sind wir sehr froh, gibt es eine Augenklinik in der Nähe; und für Kinder sind wir auch sehr froh, gibt es hier im Spital die Kinder-Permanence. Bei sehr schweren Unfällen werden wir von der Sanität nicht angefahren, aber ansonsten kann man mit allem zu uns kommen. Dort wo es möglich ist, suchen wir die Zusammenarbeit mit den Spezialist:innen – dadurch, dass wir viele im Haus haben, können wir eben viel abdecken.

Sie sind bereits seit 10 Jahren – im Laufe des 2023 dann seit 11 Jahren – als Leitender Arzt der Notfallstation im Spital Zollikerberg tätig. Wie hat sich Ihr Job über die Jahre verändert?

Ja, es hat sich definitiv viel verändert, wenn auch schleichend. Es gibt heute sicherlich viel mehr zu tun, und die Ansprüche sowohl der Patient:innen als auch der Kliniken sind gestiegen. Aber auch das Vertrauen der Ärzteteams der verschiedenen Kliniken und ich glaube auch der Hausärzt:innen in uns ist gewachsen, das muss man schon sagen. Die Zusammenarbeit über das Spital hinaus, mit anderen Spitälern und Notfallstationen, hat sich neu entwickelt – das gab es am Anfang so nicht. Dann haben wir uns in den letzten Jahren immer wieder vergrössert: mehr Stellen, mehr Ärzt:innen, mehr Oberärztinnen, mehr Pflegepersonal – seit COVID mussten wir auch räumlich wachsen und haben zusätzlichen Platz geschaffen. In der Zwischenzeit haben wir auch die Notfallstation zweimal umgebaut beziehungsweise saniert. Das erste Mal war es ein grösserer Umbau, damit wir auch die Abläufe anpassen konnten, und das zweite Mal haben wir einiges renoviert – das war etwas mühsam, weil man sich einige Wochen regelrecht in einer Baustelle befand.

In den Medien ist derzeit zu lesen, dass die Schweizer Notfallstationen aus verschiedenen Gründen – Patientenansturm, Fachkräftemangel, Viren – seit einiger Zeit am Anschlag sind. Wie bewältigen Sie den Ansturm?

Zunächst einmal muss ich sagen, dass es effektiv in den letzten Monaten zu einem Anstieg der Patientenzahlen gekommen ist. Was früher nur an vereinzelten Tagen vorgekommen ist, ist nun unser tägliches Brot. Die Situation rundherum, in anderen Spitälern, ist auch sehr angespannt. Deshalb werden die Patient:innen vermehrt auch von anderen Notfallstationen zu uns überwiesen. Es stimmt auch, dass Patient:innen in den letzten Monaten zunehmend mit Wartezeiten rechnen mussten, was bei uns früher eher die Ausnahme als die Regel war. Heute gibt es immer wieder Situationen, in denen Patient:innen, je nach Beschwerde, auch mal auf einem Stuhl auf dem Gang Platz nehmen können.

Ja – wie bewältigt man das? Das Wichtigste ist, dass wir die Patient:innen wieder schnell aus der Notfallstation entlassen können. Wenn sie nach Hause gehen, ist das relativ einfach, aber wenn sie bleiben müssen, dann braucht man sehr gute Strukturen im Hintergrund – und die haben wir hier im Spital Zollikerberg glücklicherweise, so dass wir die Patient:innen relativ rasch vom Notfall auf die Stationen bringen können. Entscheidend ist, dass die Patient:innen möglichst innerhalb von vier Stunden verlegt werden. Personell haben wir unser Team verstärkt: In den Stosszeiten haben wir eine:n Assistenzärzt:in mehr, um Patient:innen zu behandeln. Und wir planen, im Laufe dieses Jahres einen sogenannten «Fast Track» einzuführen, wo Patient:innen mit leichteren Fällen schneller behandelt werden können. Glücklicherweise haben wir auch schon vor diesem grossen Ansturm seit dem letzten Sommer Aufgaben, die nicht direkt in die Notfallmedizin fallen, aus dem Notfall herausgenommen und auf das Spital verteilt – zum Beispiel Kontrolltermine –, so dass sie die Räumlichkeiten und das Personal der Notfallstation nicht blockieren.

Apropos «Patientenansturm»: Als Grund wird auch häufig genannt, dass immer mehr Menschen mit Bagatellverletzungen den Rettungsdienst rufen oder ins Spital gehen. Lässt sich diese Entwicklung Ihrer Meinung nach zurückdrehen, und falls ja: Mit welchen Massnahmen?

Ich glaube nicht, dass es möglich ist, das Rad der Zeit zurückzudrehen. Vielmehr müssen wir jetzt nach vorne schauen und überlegen, wie wir uns neu organisieren wollen. Das wird eine spannende Herausforderung für die Gesundheitspolitik. Die Gesundheitsdirektion hat erste Versuche mit Aufklärungsarbeit unternommen. Man müsste in der Schulzeit schon ansetzen und ein Fach Gesundheit einführen – aber das ist ganz langfristig.

Ehrlich gesagt sind die Gründe für den Trend «Patientenansturm» auch nicht hundertprozentig klar. Die Vorstellung des «Familienarztes» gibt es heute fast nicht mehr. Die Menschen ziehen mehr um, die Hausärzt:innen arbeiten nicht mehr so lange und oft teilzeit. Ich gebe zu, ich habe selbst keinen Hausarzt (lacht). Und ehrlich gesagt, kenne ich kaum jemanden aus meiner Generation, der einen Hausarzt hat. Das ist schon etwas, was man sich erst zulegt, wenn man anfängt, Beschwerden zu haben. Und dann stellt sich rasch das Problem, wenn man krank ist: Wie komme ich zu einem Arzttermin? Es gibt heute auch viel mehr Permanence-Praxen, was sicher dem Trend entspricht. Eine weitere Herausforderung ist nämlich auch: die Leute wollen zu Randzeiten zum Arzt gehen. Und das bieten sowohl die Permanence-Praxen als eben auch die Notfälle an.

Als Patient:in sollte man abwägen, ob es sich tatsächlich um einen Notfall handelt, bevor man sich in die Notaufnahme begibt. Aber was ist eigentlich ein medizinischer Notfall, sprich: Wann sollte jede:r den Rettungsdienst kontaktieren?

Es gibt die extreme medizinische Notwendigkeit: wenn jemand zum Beispiel einen Herzinfarkt oder Hirnschlag erleidet oder starke Atemnot hat oder eine schwerere Verletzung. Im Allgemeinen ist es jedoch eine sehr schwierige Frage und ein Dilemma– auch meins. Ich habe auch schon Patient:innen kommen lassen, die mich angerufen haben, was sich hinterher als unnötig erwies. In vielen Fällen weiss man einfach nicht genug im Voraus, um sagen zu können, ob es nötig gewesen wäre, man kann es erst sicher im Nachhinein sagen. Meiner Meinung nach liegen die meisten Patient:innen aber gar nicht so falsch, wenn sie meinen, dass sie kommen müssen. Natürlich gibt es viele Fälle, in denen eine Hausärzt:in hätte gut helfen können. Es ist aber gar nicht so leicht, einen Termin zu bekommen, wenn es eilt. Deshalb ist es nicht falsch, einmal zuviel in den Notfall zu gehen.

Können Sie sagen, ob es so etwas wie die «häufigsten Notfälle» gibt oder ist es bei Ihnen stets durchmischt?

Die Durchmischung ist sehr gross, aber im Moment dominieren eindeutig Infektionen, Lungenentzündungen und vor allem die Grippe; wir haben auch COVID, aber weniger. Ausserdem gibt es immer viele herzkranke Patient:innen und derzeit viele Stürze. Tendenziell gibt es mehr ältere Menschen; es ist einfach so, dass man mit zunehmendem Alter anfälliger für Krankheiten und Stürze ist. Die ganze Situation ist bei älteren oft schwieriger: Zuhause schafft man es nicht mehr, sich um sich selbst zu kümmern, besonders, wenn man alleine ist.

Kommen wir nochmals auf Sie zurück: Wie gehen Sie persönlich mit Stress oder auch belastenden Situationen und Erlebnissen um?

Ich habe mir angewöhnt, jeden Tag mit dem Velo zur Arbeit zu fahren – der Januar ist jetzt nicht gerade der beste Monat dafür. Mein Arbeitsweg dauert etwa 25 Minuten, es ist also nicht ewig, aber es reicht, um meine Gedanken abzustrampeln. Im Team machen wir Debriefings. Ich denke, das Wichtigste ist, dass man mit Arbeitskolleg:innen reden kann, auch wenn es nur kurz ist. Manchmal würde man am liebsten zuhause erzählen, aber das geht natürlich nicht wegen des Patientengeheimnisses und fehlendem medizinischen Wissen. Ich spreche am liebsten hier im Spital mit Kolleg:innen. Es gehört auch zum Job, Situationen oder Erlebnisse professionell mit einer gewissen Distanz zu erleben. Aber ich weiss, Assistenzärzt:innen haben oft ein schlechtes Gewissen, wenn etwas mal nicht so gut läuft oder ganz schwierig oder traurig gewesen ist, und sie machen sich furchtbare Sorgen – daran kann man sich aber tatsächlich gewöhnen und sich emotional abgrenzen. Was sich nicht auf die Patient:innen auswirkt, mit ihnen sind wir immer sehr empathisch.

Ich möchte noch anmerken, dass es uns hier im Notfallteam Spass macht. Es mag zwar streng und manchmal auch schwierig sein, aber es ist mir sehr wichtig, dass meine Mitarbeitenden Freude empfinden und motiviert zur Arbeit kommen. Das mag für manche Menschen paradox sein, aber es ist wichtig, dass wir unsere Arbeit gerne machen. Die meisten Rückmeldungen der Patient:innen, die wir bekommen, sind auch sehr positiv. Ich denke, die meisten Menschen fühlen sich bei uns wohl – sowohl die Mitarbeitenden als auch die Patient:innen.

Portraitfoto von Dr. med. Thierry Brunschwig

Dr. med. Thierry Brunschwig

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